Ideenwerkstatt der KJF-Beratungsstelle
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20 Prozent aller Scheidungen gelten inzwischen als hochstrittig: Es kommt zu intensiven und langwierigen Konflikten zwischen den Ehepartnern. Allein in der Region Regensburg sind über 100 derartige Fälle zu verzeichnen. Das Vernetzungstreffen „Bindung und Helfersysteme im Spannungsfeld der Hochstrittigkeit“, das Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg, organisiert hat, brachte die wichtigsten Professionen, die mit dieser Thematik befasst sind, in einen Austausch, um gemeinsam Lösungsansätze zu diskutieren. Rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer brachten ihre Erfahrungen im Workshop ein.

Vor allem die gemeinsamen Kinder leiden unter hochstrittigen Scheidungen – besonders, wenn Sorge- und Umgangsrecht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen und sich die Eltern gegenseitig mit Vorwürfen überziehen. Die Folge sind unter anderem Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle, Ängste oder Verhaltensauffälligkeiten. Im Extremfall verweigert das Kind sogar den Umgang mit einem Elternteil.
Auch für die Helfersysteme, sowohl im juristischen als auch im medizinischen und psychologischen Bereich, sind hochstrittige Scheidungen kräftezehrend und mit erheblichem personellen und zeitlichen Aufwand verbunden, was die einzelnen Institutionen bis an ihre Kapazitätsgrenzen bringt und die Versorgung der Familien erschwert. Durch die Vernetzung und den Wissensaustausch zwischen Beratungsstellen, Jugendämtern, Familiengerichten, Anwälten, Verfahrensbeiständen und medizinischen Fachkliniken ließe sich die diese Situation verbessern – darin waren sich die Vertreterinnen und Vertreter der beteiligten Professionen einig.
Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg, beschreibt die Ausganglage, mit der sich die verschiedenen Helfersysteme konfrontiert sehen so: Hochstrittige Eltern neigen immer mehr dazu sich gegenseitig schwerste Psychopathologien zu unterstellen und den jeweils anderen sozial tiefgreifend zu schädigen und gleichzeitig dessen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit abzusprechen. Derartige Aussagen bringen insbesondere die Kinder dieser hochstrittigen Eltern psychisch immens unter Druck, gerade wenn ihnen dadurch ein Bild von einem oder sogar zwei psychisch schwer gestörten Elternteilen gezeichnet wird. Das verunsichert zutiefst. Gleichzeitig stehen solche Vorwürfe immer im Spannungsfeld zwischen einer herausgeforderten Bindungstoleranz einerseits und einem im Raum stehenden Schutzauftrag hinsichtlich des Kindeswohls, der weiter zu differenzieren ist, auf der anderen Seite.
Eine engere Verzahnung zwischen den beteiligten Institutionen und dem Helfersystem ist hilfreich und notwendig. Wer erteilt und wer übernimmt welche Aufträge, wie intensiv und regelmäßig muss Vernetzungsarbeit aufgestellt sein? Wo liegen aber auch in einem solchen Prozess die Grenzen unserer Arbeit in Beratung, Mediation und Psychotherapie und Psychiatrie? Hierfür eine Sensibilisierung für einheitlichere Sichtweisen zu eröffnen ist aus Sicht der Beratungsstellen sehr wünschenswert. Und nicht zuletzt – die Beratung von hochstrittigen Familiensystemen bindet immense Ressourcen in den Erziehungsberatungsstellen. Um diesen Bereich qualitativ und quantitativ besser versorgen zu können muss der personelle Ausbau unserer Beratungsstellen weiter verbessert werden.
Tobias Franz, Leiter des Allgemeinen Sozialen Diensts am Jugendamt Regensburg, fordert ein eng vernetztes Helfersystem: Hochstrittige Eltern eröffnen nicht selten „Nebenschauplätze“, indem sie Konflikte ins gesamte Helfernetz übertragen. Als Jugendamt das Kind im Fokus zu behalten und sich von den „Nebenschauplätzen“ nicht infiltrieren zu lassen, stellt eine große Herausforderung dar und bindet enorme zeitliche Ressourcen. Es gilt dabei stets die Schnittstelle zwischen Hochstrittigkeit und Kindeswohlgefährdung im Blick zu behalten. Aus Sicht des Kreisjugendamtes Regensburg bedürfte es konkreter psycho-edukativer und verpflichtender Angebote für hochstrittige Eltern, um die Dynamiken und Auswirkungen der Streitigkeiten auf die Kinder sichtbar zu machen. Es zeigt sich u.a. eine zunehmende gesellschaftliche Verlagerung der elterlichen Verantwortung auf Beratungsstellen, Jugendämter und Familiengerichte. Eltern müssen durch ein eng vernetztes System der genannten Beteiligten wieder dazu befähigt werden, selbst handlungs- und absprachefähig zu werden.
Heike Hofbauer-Koller, Richterin am Amtsgericht Regensburg und Leiterin der Familienabteilung, sieht in der Zusammenarbeit mit den Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern einen hilfreichen Lösungsansatz: Der hochstrittige Elternkonflikt mit unterschiedlicher Realitätswahrnehmung der Eltern erschwert es dem Familiengericht, sich ein klares Bild zu machen. Dies verhindert die zügige Herbeiführung einer einvernehmlichen, kindeswohldienlichen Umgangsregelung und Sorgerechtsentscheidung. In hochstrittigen Verfahren ist es hilfreich, Eltern von einer Zusammenarbeit mit Erziehungsberatungsstellen zu überzeugen. Elternberatungen, Elternschulungen, Kurse wie "Kind im Blick" stärken das Bewusstsein der Eltern für die Bedürfnisse der Kinder und tragen zu einer schnelleren und nachhaltigeren Konfliktbewältigung in familiengerichtlichen Verfahren bei. Die Sensibilisierung für häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung ist stärker als früher. Gerichte sind schneller bereit, Schutzmaßnahmen wie Kontaktverbote oder Einschränkungen der elterlichen Sorge anzuordnen.
Aus Sicht von Patrizia Weigl-Prechtl, Rechtsanwältin für Familienrecht, ist die mangelnde Einsichtsfähigkeit bei den Eltern ein großes Problem. Ob als Anwalt oder als Verfahrensbeistand, zufriedenstellende Lösungen für alle Beteiligten und natürlich insbesondere die Kinder können nur dann gefunden werden, wenn die Parteien sich darauf einlassen, an ihrem Hochkonflikt zu arbeiten und nicht lediglich den jeweils anderen Elternteil für die Probleme verantwortlich machen. Gerade wenn die Streitigkeiten schon lange Zeit andauern, verliert zudem manches Elternteil die Kindesinteressen aus dem Sichtfeld und es geht häufig nur noch darum, wer „gewinnt“.
Die Anwältin betont, dass man unbedingt so früh wie möglich am Elternkonflikt arbeiten muss, damit sich dieser nicht immer weiter verfestigt. Hier können Beratungsstellen eine große Hilfe sein. Leider wissen viele gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt und vor allem, dass sie kostenlos ist. Hier wäre mehr Aufklärungsarbeit und Werbung erforderlich, um die Eltern in der Trennungssituation alsbald möglich anbinden zu können. Sie vertritt die Auffassung, dass sich die Streitkultur aufgrund der veränderten Mediennutzung negativ entwickelt hat. Über Dienste wie WhatsApp ist es möglich, seinem Unmut schnell und einfach Luft zu machen und den anderen Elternteil anzugreifen, wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich vorstellt. Im Zweifel kann diese Nachricht dann auch binnen Sekunden wieder gelöscht werden. Der Anwältin werden oft seitenweise Chatverläufe vorgelegt, um Erzählungen zu untermauern und Vorwürfe zu beweisen. Sie glaubt, dass so mancher Satz, der schnell ins Handy getippt wurde, in dieser Form nicht gefallen wäre, wenn man sich telefonisch oder persönlich hätte austauschen müssen.
Dr. Christian Rexroth, Chefarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) am medbo Bezirksklinikum Regensburg, fasst die dramatische Situation, in der sich viele Familien während der Trennung befinden, zusammen: Oft verschwinden die Interessen und Bedürfnisse der Kinder durch den Tunnelblick der streitenden Eltern. Allgemein stellt er fest, dass fast alle Kinder, die in der KJP versorgt werden, getrennte Eltern haben. Dort schlagen auch die steigenden Fallzahlen der hochstrittigen Scheidungen durch, was zu einem erhöhten Bedarf führt. Dies betrifft auch Gutachter, die für eine verlässliche Beurteilung der Situation der Kinder unerlässlich sind. Die Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern könnten, so Dr. Rexroth, die vielen Fällen die Wucht aus dem Verfahren nehmen und die zerstrittenen Eltern dazu bewegen, wieder einen gemeinsamen Nenner gegenüber ihren Kindern zu finden. Dazu sei aber eine gute Vernetzung aller Beteiligten entscheidend.
Text: Dr. Simon Meier, Tobias Franz, Heike Hofbauer-Koller, Patrizia Weigl-Prechtl, Sebastian Schmid