null Bindungsstörungen: Entstehung, Erscheinungsbild, Interventionen

Die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) Regensburg feierte ihr 70-jähriges Bestehen mit dem Symposium „Bindungsstörungen: Entstehung, Erscheinungsbild, Interventionen“ im Jahnstadion Regensburg. Rund 560 Anmeldungen aus ganz Deutschland zeigen, welch hohen Stellenwert das Thema in der Fachwelt einnimmt. „Dr. Simon Meier und seinem Team ist es gelungen, einen hochkarätig besetzten Fachtag auf die Beine zu stellen und europaweit führende Expertinnen und Experten der Bindungsforschung nach Regensburg zu holen. Für diesen Einsatz zum Wohle der Familien, Kinder und Jugendlichen, die unter Bindungsstörungen leiden, gebühren ihm unser Dank und unsere Anerkennung“, so KJF Direktor Michael Eibl.
 

Wertvoller Input für die Praxis und Sensibilisierung der Öffentlichkeit

„Ziel unseres Symposiums ist es, hoch renommierte Expertinnen und Experten zusammenzubringen, langfristig gemeinsam an fachlichen Standards und Leitlinien zu arbeiten und dieses Wissen einer breiten Basis an Kolleginnen und Kollegen für die tägliche Praxisarbeit zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wollen wir, dass Bindungsstörungen und ihre verheerenden Auswirkungen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen“, erklärt Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg. „Angefangen vom Kinderschutz, über das Erscheinungsbild der Störung und seine Diagnostik, die Entwicklung des Störungsbildes über die Lebensspanne, sowie transgenerationale Aspekte in Verbindung mit der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen – dieses Symposium deckt sehr viele Facetten ab. Wir freuen uns über das große Interesse an dieser Veranstaltung. Das geteilte Wissen ist die Grundlage für eine gute Versorgung der Betroffenen.“

 

Eine Hommage an die Bindungsforscher Dr. Karin und Prof. Dr. Klaus Grossmann

Ehrengäste des Symposiums sind Dr. Karin und Prof. Dr. Klaus Grossmann: Mit ihrer teils über Jahrzehnte angelegten Forschungsarbeit haben sie nicht nur die Bindungsforschung revolutioniert, sondern auch bahnbrechende Erkenntnisse für die praktische Anwendung der Bindungstheorie im Alltag sowie in der klinischen und beratenden Arbeit geliefert. Diese fließen unter anderem in Ausbildung von Krippenerzieherinnen und -erziehern ein. Ihre zahlreichen Publikationen wurden in fünf Sprachen übersetzt. Eine ins Bild gesetzte Hommage an die beiden für ihr Lebenswerk in der Bindungsforschung, für ihre Sicht auf und im Umgang mit Kindern steht am Beginn des Symposiums. Generationen von Studierenden haben von Dr. Karin und Prof. Dr. Klaus Grossmann allerbestes Rüstzeug für ihre spätere Arbeit erhalten. Dazu gehören Dr. Simon Meier, Leiter der KJF-Beratungsstelle in Regensburg, sein Vorgänger Dr. Hermann Scheuerer-Englisch, Professor Dr. Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik München, welche davon in einem kurzen Filmbeitrag ein Zeugnis ablegen: „Dank ihrer unermüdlichen Forschungsarbeit ist auch wissenschaftlich belegt, dass Feinfühligkeit und das Zulassen von Nähe das Kind zu einer starken und autonomen Persönlichkeit werden lassen. Dieses Wissen bildet das Fundament für unsere Arbeit.“

Beim Auftakt des Symposiums gab es eine Hommage an Dr. Karin Grossman und Dr. Klaus Grossmann. (Foto: Sebastian Schmid)

Seit 70 Jahren kompetente und unverzichtbare Arbeit

Marje Mülder, Leiterin der Sozialverwaltung beim Bezirk Oberpfalz, überbringt Grüße des Bezirkstagspräsidenten Franz Löffler und betont in ihrem Grußwort, wie wichtig die Beratungsstellen gerade für junge Menschen, die sich noch in der Entwicklung befinden, sind: „Auch in dem Problemfeld Bindungsstörungen gilt wie in vielen Bereichen sozialer Hilfe: Je früher die Unterstützung einsetzt, umso größer sind die Chancen für bindungsgestörte Menschen, ihre Probleme anzugehen und zu lösen. Die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Katholischen Jugendfürsorge Regensburg leistet dabei seit 70 Jahren kompetente und unverzichtbare Arbeit.“ Seit dem Jahr 1954 ist die Beratungsstelle für Familien da, um gute Entwicklungsbedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien sowie eine gelingende Elternschaft zu schaffen, vor allem in Krisenzeiten und schwierigen Lebenssituationen leisten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wertvolle Unterstützung. In den vergangenen 70 Jahren machte sie Regensburg zu einem der Epizentren der Erziehungsberatungslandschaft in Deutschland, mit prägenden Führungspersönlichkeiten und wegweisenden Konzepten.

Marje Mülder, Leiterin der Sozialverwaltung beim Bezirk Oberpfalz, würdigte die Arbeit der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der KJF Regensburg. (Foto: Sebastian Schmid)

Kaum eine andere seelische Erkrankung verursacht mehr Leid

Bindungsstörung ist eines der tiefgreifendsten psychiatrischen Störungsbilder mit den meisten „lost life years“ – verlorene Lebensjahre. Kaum eine andere seelische Erkrankung verursacht mehr Leid, beinhaltet mehr seelische und körperliche Begleiterkrankungen, führt zu mehr Abbrüchen von Beziehungen und hinterlässt ganze Helfersysteme rat- und hilflos oder teilweise zerrüttet. Die langfristigen Folgen von frühkindlicher Vernachlässigung und Misshandlung bei den Betroffenen ist bislang nur in Ansätzen erforscht und erhält vergleichsweise wenig Forschungsmittel. So gehen die Behandlungs- und Interventionsansätze bei Bindungsstörungen oftmals weit auseinander, denn es gibt dazu keine gültigen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Das Symposium bietet eine große, deutschlandweite Plattform zum Austausch und gegenseitigen Verständnis.

Betroffene sind von den ersten Lebensjahren mit ihrer sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung tiefgreifend beeinträchtigt. Sie wurden chronisch beziehungstraumatisiert, gehen aus Selbstschutz in eine überbordende Selbstbestimmung, zeigen heftige und schlagartig auftretende Aggressionsdurchbrüche und sind sozial und emotional ständig in Habachtstellung. Sie können sich daher oft kaum konzentrieren, haben große Probleme bei Anforderungen in Schule oder Beruf und leiden, trotz intensiver Beziehungsversuche unter einer großen Einsamkeit. „Letztlich kann mich niemand ertragen“, „keiner hält mich aus“, „alle verlassen mich“, sind Leitsätze, die sich durch das Leben der Betroffenen ziehen. Neben immensem persönlichem Leid verursachen Bindungsstörungen oft massive gesellschaftliche Folgekosten für das Gesundheitswesen, Jugendhilfe- und Sozialleistungen sowie Forensische Fachkliniken.

Prof. Dr. Peter Zimmermann sprach zum Thema Bindungsstörungen von der mittleren Kindheit bis ins Jugendalter, Konsequenzen für Schule und Jugendhilfe. (Foto: Annika Jehl)

Einer der profiliertesten Referenten des Symposiums ist Prof. Dr. Peter Zimmermann, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie an der Universität Wuppertal: Er hat sich mit seinen Forschungsarbeiten – unter anderem zur Bedeutung der Vater-Kind-Bindung und zur Bindungsentwicklung im Lebenslauf – auch international einen Namen gemacht. Als Sachverständiger beim Bundesverfassungsgerichtshof war er maßgeblich an der Grundsatzentscheidung zur Stärkung der Rechte leiblicher Väter beteiligt (Urteil vom 09.04.2024). Zudem forschte er zu Gen-Umwelt-Interaktionen und zur Entwicklung der Emotionserkennung, Emotionsregulation und Entwicklung emotionaler Kompetenz. „Wir dürfen die von Bindungsstörungen betroffenen Kinder nicht alleine lassen – vor allem in den ersten drei Lebensjahren. Oftmals haben sie später als erwachsene Menschen große Schwierigkeiten, einen Schulabschluss zu schaffen oder ihr Leben selbstständig zu führen“, so Dr. Zimmermann.

Text: Sebastian Schmid