null Erinnern für die Zukunft

Domkapitular Michael Dreßel, der Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbands Regensburg, hat gemeinsam mit Bezirkstagspräsident Franz Löffler, Dr. Helmut Hauser, Vorstand der medbo, Ilse Danziger, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Regensburg, und Klaus Stiegler, evangelisch-lutherischer Regionalbischof des Kirchenkreis Regensburg, der Opfer der T4-Morde während der NS-Zeit gedacht.

Worte von Domkapitular, Michael Dreßel zur Gedenkveranstaltung: Erinnern für die Zukunft – 85 Jahre T4-Krankenmordaktion in der NS Zeit

Sehr geehrter Herr Bezirkstagspräsident,
sehr geehrter Herr Dr. Hausner,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, heute im Rahmen dieser Gedenkveranstaltung zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich tue dies in Vertretung des Bischofs von Regensburg, Dr. Rudolf Voderholzer, der aufgrund der Herbstvollversammlung der Freisinger Bischofskonferenz nicht unter uns weilen kann, Sie aber alle aufs herzlichste grüßen lässt. Ich stehe vor Ihnen aber auch als Vorsitzender der Katholischen Jugendfürsorge im Bistum Regensburg, eines Fachverbandes der Caritas mit rund 4.500 Mitarbeitenden, der sich in besonderer Weise der Sorge für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung verschrieben hat.

Wir halten inne. – Wir gedenken. – Wir halten die Erinnerung wach.

85 Jahre „Aktion T4“ – 85 Jahre Abtransport und systematischer Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen; Menschen, die der Zynismus der Macht als „lebensunwert, da unproduktiv“ gebrandmarkt hatte. Menschen mit einem Gesicht, einem Namen, einer Geschichte, einer Familie reduziert auf alte Maschinen, die nicht mehr laufen wollen und daher verschrottet werden; reduziert auf unproduktives Vieh, das zum Schlachter abtransportiert wird.

Mit diesen drastischen, ja schockierenden Bildern hatte im August 1941 der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in seiner berühmten Predigt in der Lamberti-Kirche die Menschen aufzurütteln versucht und ihnen zugerufen: „Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen (…) Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern!“ Und er fuhr fort mit der Frage: „Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“

Wir halten inne. – Wir gedenken. – Wir halten die Erinnerung wach. Und wir tun gut daran. Denn Erinnerung ist aufs Engste verbunden mit Identität, mit unserer Identität. Das gilt für den Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft als Ganze. Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß auch nicht, wohin er gehen soll. Erinnerung verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und formt so die Zukunft.

Wir halten inne. – Wir gedenken. – Wir halten die Erinnerung wach. Und wir tun gut daran. Denn mit unserem Erinnern setzen wir ein Zeichen gegen das „mitleidlose Vergessen der Opfer“, ein Zeichen gegen eine „Kultur der Amnesie, in der angeblich die Zeit alle Wunden heilt“ . Wir setzen aber auch ein Zeichen gegen Kräfte, die versuchen, das Grauen zu relativieren, umzudeuten oder gar umzuschreiben.

Wir halten die Erinnerung wach. Und wir tun gut daran. Denn das „Vergangene ist“ – mit den Worten von Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz gesprochen – „nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen.“

Im Zentrum dieser Suche muss der Mensch stehen als ein Wesen, das nicht auf seine Produktivität reduziert werden darf, der Mensch, der vom ersten Augenblick an kein etwas ist, über das man verfügen könnte, sondern ein jemand, eine Person, die niemals Mittel zum Zweck, sondern immer Zweck an sich selbst ist ; der Mensch, ausgestattet mit einer unantastbaren Würde, die „zu achten und zu schützen (…) Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ist. So ist es im Artikel 1 des Grundgesetzes formuliert.

Christen sind davon überzeugt, dass diese Würde des Menschen und mit ihr verbunden das Recht auf Leben unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion oder Weltanschauung, unabhängig von Gesundheit oder Krankheit, unabhängig ob geboren oder ungeboren im Schöpferwillen Gottes selbst begründet ist.

Diese Perspektive gilt es einzubringen in den Diskurs unserer Zeit; wenn es etwa um die Frage geht, ob der Mensch all das tun darf, wozu er technisch in der Lage ist. Daran gilt es zu erinnern, wenn die Stärke des Rechts verdrängt zu werden droht vom Recht des Stärkeren. Das Eintreten für die Stärke des Rechts ist untrennbar verbunden mit dem Einsatz für die Rechte und die Würde der Schwachen.

Wir halten inne. – Wir gedenken. – Wir halten die Erinnerung wach, dass heute vor 85 Jahren hier begonnen wurde, hunderte unschuldiger Menschen von der Regensburger Heil- und Pflegeanstalt aus auf einen Weg in die „finstere Schlucht“ des Todes zu schicken. Gerade deswegen möchte ich mit einem Gebet der Hoffnung und des Vertrauens schließen: einem Psalm des Volkes Israel, der durch Jesus auch zum Gebet der Christen geworden ist:

Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen (…) Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht“ (Ps 23,1.4).

Wir halten inne. – Wir gedenken. – Wir halten die Erinnerung wach.